Entwicklungsphasen
Das Syndrom wird bei der Geburt oder im frühen Säuglingsalter meist noch nicht erkannt, da in dieser Zeit unspezifische Symptome auftreten. Im frühen Kindesalter sind die typischen Merkmale jedoch bereits voll ausgeprägt und der Verdacht auf AS ergibt sich aus der Beobachtung bestimmter körperlicher und geistiger Merkmale.
Übersicht der Entwicklungsphasen
Aktuelle Wissensstand über die Entwicklung der Betroffenen mit AS von der pränatalen Phase bis zum Erwachsenenalter.
Die Schwangerschaft verläuft in der Regel normal. Das Wachstum des Fötus scheint normal zu verlaufen und es besteht kein Verdacht auf einen Zusammenhang mit der Einnahme von Drogen oder Medikamenten.
Das Geburtsgewicht und -alter entsprechen einer „normalen“ Entbindung. Die Säuglinge weisen keine erhöhte Rate von Komplikationen auf, die Apgar- sowie andere Richtwerte sind für die Gesundheit Neugeborener normal. In seltenen Fällen ist eine Abflachung des Hinterkopfes zu beobachten. Geburtsfehler kommen nicht häufiger vor als bei nicht behinderten Kindern.
Die Diagnose wird selten schon in dieser Entwicklungsphase gestellt, jedoch treten viele typische Verhaltensweisen und physische Merkmale auf, die auf das Angelman-Syndrom deuten. Probleme beim Stillen des Säuglings treten häufig auf und sind durch Schwierigkeiten beim Saugen und Schlucken gekennzeichnet. Einige AS-Babys zeigen sogar kein Interesse am Stillen. Die Säuglinge weisen teilweise anormales Herausstrecken der Zunge oder starkes Sabbern auf, was auf ein oralmotorisches Koordinationsproblem zurückgeführt werden kann. Häufiges Spucken kann als Überempfindlichkeit gegen die Nahrung oder deren Zusammensetzung fehlinterpretiert werden. Wegen des häufigen Spuckens wird teilweise ein Verdacht auf gastroösophagealen Reflux (Rückfluß) geäußert und obwohl ein Reflux vorhanden sein kann, so ist er unterschiedlich in dessen Ausmaß. Dieses „Spuckproblem“ kann zu Gewichtsverlust oder geringfügigen Entwicklungsstörungen führen, was oft eine Reihe von Arztbesuchen zur Folge hat.
Bei AS-Kindern ist oft frühzeitig „soziales Lächeln“ zu beobachten und zwischen 3 und 6 Monaten kommt es zu übermäßigem Kichern und Gurgeln. Diese exzessive Freude kann mit der hervorgestreckten Zunge in Verbindung gebracht werden, was dann den Anschein erwecken kann, sie sei besonders groß. Neueste Forschungen lassen Anomalitäten in den Gesichtszügen erkennen (→ siehe Bericht DeepGestalt). Eine gewisse Muskelschwäche kann auftreten, ist jedoch in der Regel nicht gravierend. Eine Verzögerung der motorischen Entwicklung wird mit 6 – 12 Monaten deutlich, wenn das Kind noch nicht krabbelt und sitzt. Bei einigen Kindern vermutet man eine schwache zerebrale Lähmung, besonders da starke Bänderreflexe (z.B. Kniereflex) fast immer hyperaktiv sind. Die Bewegungen des Oberkörpers können bebend/zittrig sein und den Sitzvorgang oder andere Fähigkeiten, für die ein Gleichgewicht der Lendenwirbelsäule notwendig ist, stark behindern.
Eine Minderheit der AS-Säuglinge bekommt schon im Alter von 12 Monaten Krampfanfälle. Diese Anfälle können sehr heftig sein und sind begleitet von einem auffälligen EEG. Oft besteht die Notwendigkeit, in Absprache mit einem Neurologen, Antiepileptika zur Kontrolle der Anfälle zu verabreichen.
Obwohl die Kopfgröße bei der Geburt normal ist, kann zwischen 6 und 12 Monaten erstmals die Besorgnis um einen auffällig kleinen Kopf (Mikrozephalie) auftreten.
In diesem Alter wird die Entwicklungsstörung sehr deutlich und führt die Eltern dazu, ärztlichen Rat einzuholen. Die Anfälle sind meist nicht „hauptmotorisch“ (starke Anfälle), sondern von geringerem Ausmaß und daher oft schwer als solche erkennbar.
Das EEG weist meist ungewöhnliche Kurven auf, so z.B. große, langsam ansteigende und spitz zulaufende Kurven, die auf eine „komplexe“ oder „variable“ Art der Anfälle hinweisen oder ein Zeichen für eine starke organische Entwicklungsstörung des Gehirns sind. Trotz dieser Auffälligkeiten des EEG ergeben neurodiagnostische Tests meist keine Anomalitäten. MRI-oder CT-Analysen zeigen keine entsprechenden Anomalitäten auf, sondern weisen auf eine geringfügige Atrophie des zerebralen Kortex hin. Blut- und Urinproben, die auf metabolische Störungen untersucht werden, ergeben normale Werte. Muskelbiopsien, Untersuchungen der Leitungsfähigkeit der Nerven und andere neuromuskuläre Tests weisen ebenfalls normale Werte auf.
Die Verhaltensweisen der Kinder in diesem Alter werden besonders genau beobachtet. Sie sind oft überreizt, hypermotorisch und ständig in Bewegung. Viele haben dauernd ihre Hände oder ihr Spielzeug im Mund und dieses, zusammen mit der herausgestreckten Zunge und auffälligem Sabbern, kann ein besonders auffälliger Verhaltensaspekt sein.
Während der Phasen, wo die Kinder besonders aufgeregt sind, kommt es oft zu übermäßigem Lachen mit hervorgestreckten, winkenden Armen. Dieser hypermotorische Zustand wird mit der sehr geringen Konzentrationsfähigkeit der Kinder in Zusammenhang gebracht, denn es ist schwer, ein AS-Kind auch nur wenige Minuten für eine Sache zu interessieren.
In diesem Alter wird auch das fehlende Sprachvermögen deutlich. AS-Kinder scheinen Sprache zu verstehen, es kommt zu sozialer Interaktion und sie „babbeln“ teilweise vor sich hin oder quietschen und schreien. Ein oder zwei gut verständliche Worte können gesprochen werden, werden jedoch meist zusammenhanglos verwendet.
Während dieser Phase kann eine Therapie zum Erlernen des selbständigen Laufens von besonderer Bedeutung sein (Physiotherapie). AS-Kinder fangen wegen ihrer Gleichgewichtsstörungen und den ruckartigen Bewegungen erst spät mit dem Laufen an. Beim Versuch zu Stehen oder zu Laufen ergeben sich eine Reihe von Hindernissen. Manche Kinder sind so ataktisch, dass das Laufen für sie unmöglich ist, bis sie älter werden und sich motorisch besser unter Kontrolle haben. Andere Kinder laufen bereits mit 2-3 Jahren, da die Stärke der Ataxie* sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Das anomale Laufen führt oft zu einer orthopädischen Untersuchung, besonders wenn zunächst der Verdacht auf zerebrale Lähmung bestand.
Bei Kindern mit Krampfanfällen sind diese in dieser Entwicklungsphase medizinisch schwer in den Griff zu bekommen, obwohl die Anfälle meist recht schwach ausfallen. Dafür können sie häufig auftreten und eventuell nicht auf die verabreichten Antiepileptika ansprechen, so dass teilweise ein wiederholtes Wechseln der Medikamente sowie häufige Besuche beim Neurologen notwendig werden. Bei Kindern, die noch nie unter Krampfanfällen litten, können sie in dieser Entwicklungsphase auftreten. Einige wenige Kinder bekommen nie Anfälle, obwohl das EEG auffällig ist und bleibt.
Während dieses Alters wird das Entwicklungstraining meist in schulischer Umgebung fortgeführt.
Eine bedeutende Anzahl der AS-Kinder wird relativ trocken (kontinent), wobei dies sehr viel Geduld und ein genau strukturiertes Training erfordert. Viele Kinder sind in diesem Alter jedoch nicht vollkommen trocken. Eine relativ große Anzahl kann zwar „zeitlich“ trainiert werden, ist jedoch trotzdem nicht absolut kontinent.
Beschäftigungs- und Physiotherapie werden bereits in integrativen Kindergärten angewandt. Hier erfahren die Kinder den sozialen Umgang in der Gruppe, lernen – soweit dies möglich ist – sich spielerisch auf Abläufe zu konzentrieren. Selbsthilfefähigkeiten, wie Essen und Anziehen, sind Therapiekomplexe, die oft durch Ungelenkigkeit und unkoordinierte Bewegungen behindert werden, obwohl sich diese motorischen Probleme in der späteren Kindheit bessern können.
Wegen ihrer motorischen Hyperaktivität sind Angelman-Kinder besonders gefährdet und sind anfänglich nicht in der Lage, Gefahrensituationen einzuschätzen. Verletzungen im häuslichen Bereich treten durch Stolperfallen (z.B. Teppich etc.) oder durch Anstoßen am Mobiliar auf.
Auch Schlafstörungen stellen für viele Familien eine besondere Belastung dar. Die Nachtaktivität der Angelman-Betroffenen lässt kaum eine Erholung der Eltern zu. Durch Forschungen wurde mittlerweile bewiesen, dass das körpereigene Hormon Melatonin nicht ausreichend produziert wird. Hier verweisen wir auf die Studie von Prof. Dr. Braam, welche auf unserer Homepage zu lesen ist.
*Ataxie: Störung der Bewegungsabläufe und der Haltungsinnovation mit Auftreten unzweckmäßiger Bewegungen infolge gestörter funktioneller Abstimmung der entsprechenden Muskelgruppe
Bei AS-Betroffenen scheint es keine neurologischen Beeinträchtigungen zu geben, und sie lernen langsam, aber stetig. Die Geschlechtsreife tritt während der Pubertät ein, obwohl diese bis zu drei Jahre verspätet sein kann. Die Menstruation setzt normal ein, Scham- und Achselhaare wachsen und die Brust entwickelt sich weiter, wenn auch langsamer.
Die weitere medizinische Behandlung erfolgt – sofern AS noch nicht diagnostiziert wurde – in der Regel durch einen Neurologen. Das weitere Entwicklungspotenzial der AS-Betroffenen kann durch die verschiedenen Therapien im kommunikativen und motorischen Bereich verbessert werden. Der Intelligenz- oder Anpassungsquotient ist aufgrund des Syndroms schwer zu beurteilen. Bei fast allen Angelman-Betroffenen bleibt die Sprachentwicklung aus, obwohl das Sprachverständnis und die nonverbale Kommunikation der expressiven Sprache weit voraus sind.
Junge Erwachsene mit AS lernen kontinuierlich weiter und es scheint keine signifikante Verschlechterung der geistigen Leistungsfähigkeit oder der körperlichen Konstitution zu geben. Die allgemeine körperliche Gesundheit von Menschen mit AS scheint recht gut zu sein. Die Anfälle können in den meisten Fällen mit Hilfe von Antiepileptika kontrolliert werden, und die Medikamente können manchmal im frühen Erwachsenenalter abgesetzt werden.
Wir weisen an dieser Stelle ausdrücklich darauf hin, dass jegliche Medikamente in Art und Dosierung nur nach Rücksprache mit einem Neurologen eingesetzt werden sollten. Krankheiten wie Lungenentzündungen oder Infektionen scheinen nicht häufiger aufzutreten als bei anderen Menschen und die Lebenserwartung ist nicht signifikant verringert.
Inzwischen sind viele Betroffene bekannt, die weit vor der Gründung des Vereins 1993 geboren und nicht diagnostiziert wurden. Im Laufe der Jahre, in der Entwicklung des Vereins und natürlich auch der Medizin, lernen wir immer mehr ältere Betroffene kennen. Aufgrund der Lebenssituation, die sich im Laufe der Jahre eingependelt hat, sind die Erfahrungen der Eltern eine wertvolle Information für die jüngeren Generationen.