Genetik
Prof. Dr. Bernhard Horsthemke, Dr. Jasmin Beygo und Dr. Karin Buiting,
Universitätsklinikum Essen

Zusammenfassung
Das Angelman-Syndrom ist eine neurogenetische Erkrankung, die durch den Funktionsverlust des UBE3A-Gens verursacht wird. UBE3A liegt in einem Bereich auf Chromosom 15 (15q11q13), in dem Gene einer elterlichen Prägung unterliegen (genomisches Imprinting). Das bedeutet, dass diese Gene nur auf einem der elterlichen Chromosomen aktiv sind, entweder auf dem Chromosom 15, das vom Vater ererbt wurde, oder auf dem Chromosom 15, das von der Mutter ererbt wurde. Beim Imprinting handelt es sich um eine Modifikation (Methylierung) regulatorischer DNA-Abschnitte auf dem mütterlichen Chromosom 15, wodurch die Aktivität bestimmter Gene direkt oder indirekt beeinflusst wird. In Nervenzellen des Gehirns ist UBE3A nur auf dem mütterlichen Chromosom aktiv; das väterliche Gen (das väterliche Allel) ist abgeschaltet. Ein genetischer Fehler, der das mütterliche Allel dieses Gens betrifft, kann daher nicht durch das väterliche Allel kompensiert werden. Die häufigste genetische Ursache bei etwa 75 Prozent aller Patienten mit einem Angelman-Syndrom ist eine Deletion (Verlust von genetischem Material) der gesamten chromosomalen Region 15q11q13 auf dem mütterlichen Chromosom 15. Bei ca. 1 bis 2 Prozent der Patienten liegen zwei väterliche Chromosomen 15, aber kein mütterliches Chromosom 15 und damit kein aktives UBE3A-Gen vor (paternale uniparentale Disomie). Bei weiteren 2 bis 4 Prozent der Patienten ist ein Imprintingfehler die genetische Ursache. In diesem Fall trägt das mütterliche Chromosom im Bereich 15q11q13 eine väterliche Prägung, wodurch das UBE3A-Gen auch auf diesem Chromosom abgeschaltet ist. Eine genetische Veränderung bzw. Mutation, die das UBE3A-Gen direkt betrifft, findet man bei ca. 5bis 10 Prozent aller Patienten. Die unterschiedlichen genetischen Ursachen führen zu Unterschieden in der Ausprägung der klinischen Merkmale bei den Patienten. Klinische Studien haben gezeigt, dass Patienten mit einer großen Deletion schwerer betroffen sind als die mit einer uniparentalen Disomie, einem Imprintingfehler oder einer Mutation im UBE3A-Gen. Bei ca. 10 Prozent der Patienten mit der Verdachtsdiagnose Angelman-Syndrom gibt es keinen nachweisbaren genetischen Fehler auf Chromosom 15, bei manchen Patienten aber eine Mutation an einem anderen Genort.

Gene sind als abgerundete Rechtecke eingezeichnet und haben eine Allel auf dem mütterlichen (M) Chromosom und ein Allel auf dem väterlichen (V) Chromosom. Ihre Namen sind oben angegeben. AS-IC und PWS-IC (offene Kreise) bilden das zweigeteilte 15q11q13 Imprintingcenter. In blau gezeichnete Gene: nur auf dem väterlichen Chromosom aktiv; rot gezeichnete Gene: nur auf dem mütterlichen Chromosom aktiv; schwarz gezeichnete Gene: auf beiden Chromosomen aktiv. Pfeile oberhalb und unterhalb der Gene zeigen die Genaktivität und die Transkriptionsrichtung an. Das auf dem väterlichen Chromosom gebildete SNHG14 Transkript dient als Vorstufe für kleine nukleoläre RNAs (snoRNAs), überstreicht das UBE3A-Gen und schaltet dieses ab. CH3: Methylierung. Horizontale Linien: Klasse-I- bzw. Klasse-II-Deletion; BP: Bruchpunkt.-
Genomisches Imprinting
Elterliche Prägung (Genomisches Imprinting) bezeichnet einen Prozess, in dem ca. 100 der ca. 20.000 menschlichen Gene während der Eizell- und der Spermienbildung so markiert werden, dass nach der Befruchtung nur das väterliche Allel oder nur das mütterliche Allel aktiv ist. Bei der Markierung handelt es sich um eine Modifikation (Methylierung) regulatorischer DNA-Abschnitte (Imprintingkontrollbereiche oder Imprintingcenter, IC). Das Imprinting in 15q11q13 wird durch ein zweiteiliges Imprintingcenter kontrolliert (Abbildung 1). Das AS-Imprintingcenter” (AS-IC) ist für die Methylierung des PWS-Imprintingcenters (PWS-IC) während des Wachstums der Eizelle verantwortlich, also für die Prägung des mütterlichen Chromosoms. Infolge der Methylierung des PWS-IC, das mit dem Transkriptionsstart von SNRPN und SNHG14 überlappt, werden auch die Gene MKRN3, MAGEL2 und NDN auf dem mütterlichen Chromosom methyliert und abgeschaltet.
Das UBE3A-Gen
Das UBE3A-Gen liegt im chromosomalen Bereich 15q11q13, umfasst etwa 120.000 Basen genomischer DNA und besteht aus 16 DNA-Abschnitten, (Exons), die in Boten-RNA umgeschrieben werden (Transkription), welche als Vorlage für die Proteinherstellung (Translation) dient. Es gibt mindestens drei unterschiedliche Boten-RNAs (Transkripte), die zu unterschiedlichen Proteinen führen. Das Enzym “Ubiquitin-Protein-Ligase E3A”, das im Zusammenhang mit Angelman-Syndrom wichtig ist, wird von 10 der 16 Exons kodiert. Die Ubiquitin-Protein-Ligase E3A markiert in der Zelle bestimmte Zielproteine mit Ubiquitin, was dafür sorgt, dass diese Proteine abgebaut werden. Es ist bislang weitgehend unklar, wie Störungen in diesem Prozess zur Ausprägung des Angelman-Syndroms führen können. Aber die in der letzten Zeit identifizierten Zielproteine und die Tatsache, dass die Ubiquitin-Protein-Ligase E3A hauptsächlich im Zellkern von Nervenzellen (Neuronen) lokalisiert ist, gibt einen Hinweis darauf, dass sie eine wichtige Rolle in der neuronalen Entwicklung spielt.
In den meisten Körperzellen liegt UBE3A als aktives Gen sowohl auf dem mütterlichen als auch auf dem väterlichen Chromosom vor. In bestimmten Nervenzellen des Gehirns ist aber nur das mütterliche Allel aktiv, während das väterliche Allel abgeschaltet ist. Die Inaktivierung des väterlichen UBE3A-Allels in Gehirnzellen erfolgt indirekt: Ein benachbartes Gen (SNRPN) bildet im Gehirn ein sehr langes Transkript (SNHG14), welches in entgegengesetzter Orientierung zu UBE3A verläuft und dessen Transkription blockiert. Auf dem mütterlichen Chromosom ist der Transkriptionsstart von SNHG14 durch DNA-Methylierung abgeschaltet, so dass UBE3A auf diesem Chromosom nicht blockiert wird und abgelesen werden kann.
Molekulargenetische Ursachen des Angelman-Syndroms
Beim Angelman-Syndrom kennen wir vier verschiedene molekulare Ursachen. Abbildung. 2 zeigt hierzu eine schematische Übersicht.

Chromosom 15q11q13 Deletionen
Die häufigste genetische Ursache des Angelman-Syndroms ist eine große Deletion des chromosomalen Bereichs 15q11q13 auf dem mütterlichen Chromosom 15 und ist bei etwa 75 Prozent aller Patienten die Ursache für das Syndrom. Diese Deletionen überspannen das UBE3A-Gen, so dass den Patienten das aktive mütterliche Allel fehlt. Die Deletionen betreffen außer UBE3A auch alle anderen elterlich geprägten, aber auch die nicht-geprägten Gene dieser Chromosomenregion. Nach ihrer Größe unterscheidet man hauptsächlich zwei Klassen von Deletionen (siehe Abbildung 1). Die Bruchpunkte (BPs) dieser Deletionen sind genau definiert und werden als BP1, BP2 oder BP3 bezeichnet. Wie aus der Karte der chromosomalen Region erkenntlich ist, liegen die Bruchpunkte bei den Klasse-I-Deletionen in BP1 und BP3 und bei den Klasse-II-Deletionen in BP2 und BP3. Es ist nicht endgültig geklärt, ob es relevante klinische Unterschiede zwischen Patienten mit einer Klasse-I- und einer Klasse-II-Deletion gibt. In seltenen Fällen kann sich die Deletion auch über BP3 hinaus erstrecken und ihren Bruchpunkt in BP4 oder BP5 haben. Deletionen sind in der Regel neu entstanden, und daher ist ein Wiederholungsrisiko eher als gering einzustufen. In sehr seltenen Fällen liegt allerdings bei der Mutter eine Umstrukturierung zweier Chromosomen unter Einbeziehung des Chromosoms 15 vor (Translokation). In einem solchen Fall ist das Wiederholungsrisiko erhöht (Tabelle 1).
Paternale uniparentale Disomie 15
Als uniparentale Disomie 15 bezeichnet man das Vorhandensein zweier Chromosomen 15 (Disomie) von nur einem Elternteil (uniparental). Ist die genetische Ursache für das Angelman-Syndrom eine paternale uniparentale Disomie 15 (upd(15)pat), so stammen beide Chromosomen 15 vom Vater; es fehlt ein mütterliches Chromosom 15 und somit das aktive Allel des UBE3A-Gens. Eine upd(15)pat findet man in 1-2% aller Patienten. Eine uniparentale Disomie kann je nach Entstehungsmechanismus in zwei verschiedenen Formen auftreten, als Heterodisomie oder als Isodisomie. Bei einer Heterodisomie repräsentieren die beiden Chromosomen die beiden unterschiedlichen Chromosomen eines Elternteils. Bei einer Isodisomie dagegen sind beide Chromosomen 15 identisch, d.h. es handelt sich um ein Chromosom eines Elternteils, das sich verdoppelt hat und in zweifacher Kopienzahl vorliegt. Beim Angelman-Syndrom liegt fast ausschließlich eine paternale Isodisomie vor. Eine solche Isodisomie entsteht höchstwahrscheinlich durch Befruchtung einer Eizelle, der das Chromosom 15 fehlt. Nach der Befruchtung, bei der ein Chromosom 15 des Spermiums hinzukommt, setzt dann ein Korrekturmechanismus ein, bei dem das Chromosom 15 des Vaters dupliziert wird. Das Wiederholungsrisiko für eine solche uniparentale Disomie ist sehr gering, wenn die Mutter einen normalen Chromosomensatz hat (Tabelle 1).
Imprintingfehler
Bei Genen, die dem genomischen Imprinting unterliegen, ist nur ein Allel, also entweder das väterliche oder das mütterliche Allel aktiv. Wird durch einen Fehler in diesem Prozess auch das Allel eines Gens stillgelegt, das aktiv sein sollte, kommt es zu einem Totalausfall des Genproduktes, was zu spezifischen Erkrankungen wie dem Angelman-Syndrom führen kann.
Beim Angelman-Syndrom kommt ein Imprintingfehler mit einer Häufigkeit von 2-4 % vor. Hier fehlt dem mütterlichen Chromosom 15 die Methylierung des Transkriptionsstarts für das SNRPN/SNHG14-Gen, so dass dieses Transkript gebildet und dadurch das mütterliche UBE3A-Transkript blockiert wird. In den allermeisten Fällen ist der Imprintingfehler sporadisch durch einen Methylierungsfehler bei der Eizellbildung oder dem Verlust der Methylierung in der frühen Embryonalentwicklung entstanden und mit einem sehr niedrigen Wiederholungsrisiko verbunden. Liegt der Imprintingfehler in der Eizelle vor, dann tragen ihn alle Körperzellen. Ein Verlust der Methylierung in einer Körperzelle während der Embryonalentwicklung führt zu einem „somatischen Mosaik“, d.h. der heranwachsende Embryo hat Körperzellen mit einem Imprintingfehler, aber auch normale Körperzellen. Beim Angelman-Syndrom aufgrund eines sporadischen Imprintingfehlers findet man in 40-50% aller Fälle ein somatisches Mosaik. Je nach Anteil der normalen Körperzellen kann die Ausprägung der Symptomatik milder sein.
In 5-10% der Fälle wird der Imprintingfehler durch eine kleine Deletion des Bereichs, der für das mütterliche Imprinting verantwortlich ist (AS-IC) verursacht. Trägt die Mutter schon diese Deletion (auf ihrem väterlichen Chromosom 15), dann liegt das Wiederholungsrisiko für ein weiteres Kind mit Angelman-Syndrom bei 50%, während es bei den sporadischen Fällen nur ein sehr geringes Wiederholungsrisiko gibt (Tabelle 1).
Mutationen des UBE3A-Gens
Bei 5-10% der Betroffenen mit einem Angelman-Syndrom wird die Erkrankung durch eine Mutation des mütterlichen UBE3A-Allels verursacht. In den meisten Fällen sind diese Mutationen neu entstanden und gehen nicht mit einem erhöhten Wiederholungsrisiko einher. In etwa 20 Prozent aller Fälle handelt es sich um eine familiäre Mutation. Hier ist die gesunde Mutter bereits Trägerin der Mutation. Da sie die Mutation auf dem väterlichen Chromosom 15 trägt, hat diese Mutation bei ihr keine klinische Relevanz. Diese Mütter haben aber ein 50 Prozentiges Risiko für ein weiteres erkranktes Kind.
Molekulare Ursachen bei Angelman-Syndrom
Ursache | Maternale Deletion 15q11q13 | Upd(15)pat | Imprintingfehler | UBE3A Mutation | andere |
---|---|---|---|---|---|
IC-Deletion | Keine IC-Deletion | |||||
Häufigkeit | ~ 75 % | ~ 1 bis 2 % | ~ 0.3 % | ~ 2 bis 4 % | ~ 5 bis 10 % | ~ 10 % |
WR* | < 1 % | < 1 % | ≤ 50 % | < 1 % | ~ 50 % | ? |
*Wiederholungsrisiko bei normalen elterlichen Chromosomen
Genotyp-Phänotyp Korrelation
Wie schon in der Zusammenfassung angesprochen, führen die verschiedenen genetischen Ursachen des Angelman-Syndroms zu Unterschieden in der Ausprägung der Krankheit (Phänotyp). Klinische Studien haben gezeigt, dass Patienten mit einer großen Deletion in 15q11q13 schwerer betroffen sind als diejenigen, die eine uniparentale Disomie, einen Imprintingfehler oder eine Mutation im UBE3A-Gen haben: Patienten mit einer Deletion zeigen eine schwerere Ausprägung der Intelligenzminderung, Mikrozephalie, Ataxie, epileptischen Anfälle, muskulären Hypotonie und Sprachstörungen. Die Deletionen betreffen auch Gene, die nicht dem Imprinting unterliegen und die auf beiden elterlichen Chromosomen 15 aktive Allele haben, so dass für diese Gene nur die Hälfte der Gendosis und damit des Genprodukts vorhanden ist. Es ist durchaus möglich, dass dies die Funktion dieser Gene beeinträchtigt (Haploinsuffizienz) und zu einer Modifizierung des Phänotyps führt. So ist die erhöhte Häufigkeit von Krampfanfällen bei Patienten mit einer Deletion vermutlich auf die Reduktion der Gendosis der drei GABA-Rezeptorgene GABRB3, GABRA5 und GABRG3 in Verbindung mit dem Funktionsverlust von UBE3A zurückzuführen. Eine helle Haar- und Hautpigmentierung wird durch die verringerte Gendosis des OCA1-Gens verursacht. Weitere nicht-geprägte Gene, die bei der Klasse-I-Deletion verloren gehen, sind, die zwischen BP1 und B2 liegenden Gene NIPA1, NIPA2, CYFIP1 und GCP5. Die Dosisreduktion dieser Gene scheint sich auf die Ausprägung einer Autismus-ähnlichen Symptomatik, der Sprachminderung sowie einer Epilepsie ungünstig auszuwirken.
Patienten mit einer Mutation des UBE3A-Gens haben in der Regel Krampfanfälle, zeigen aber, wie auch Patienten mit einer uniparentalen Disomie oder einem Imprintingfehler, eine bessere motorische Entwicklung auf als Patienten mit einer Deletion und entwickeln häufig Übergewicht im Erwachsenenalter. Bei Patienten mit Angelman-Syndrom aufgrund eines Imprintingfehlers gibt es eine Gruppe von Patienten mit eher untypischen Merkmalen für ein Angelman-Syndrom, wie z. B. eine neonatale muskuläre Hypotonie und eine früh einsetzende Adipositas. Liegt ein Imprintingfehler als somatisches Mosaik vor, so kann das mit einem milderen Verlauf der Erkrankung einhergehen, mit besserer Sprachfähigkeit und kognitiver Funktion.